"Augen auf beim Wattenlauf": Rainhard Boyens will den Blick fürs Unscheinbare schärfen.
Erschienen in: QUADRAT-Magazin Lüneburg, Juli 2020.
Es gibt Inseln, die werben mit weitläufigen Golfplätzen, wieder andere locken mit einer mondänen Party-Szene. Auf Amrum findet man weder Flugplatz noch Golf-Course, stattdessen einen Strand mit Karibik-Flair, eine urwüchsige Dünenlandschaft und freie Sicht bis zum Horizont. Zuhause fühlt sich auf der nordfriesischen Insel, wer mal so richtig entschleunigen möchte. Das Auto lässt man am besten am Festland stehen. Nach zweistündiger Fährfahrt geht es dann in gemächlichem Tempo per Rad in nur 30 Minuten vom südlichen Wittdün bis nach Norddorf im Norden. An der Westküste schmiegt sich der zwölf Kilometer lange und endlos breite Kniepsand an die Westküste. Im kleinen Hafen von Steenodde dümpeln Fischkutter auf den Wellenkämmen.
„Auf dem alten Seemannsfriedhof erzählen die 'sprechenden Grabsteine' die Lebensgeschichten von Seefahrern und Walfängern.”
In der Inselmitte wechseln sich Wald, Wiesen und Heidelandschaften ab, und im Örtchen Nebel sind nicht nur die malerischen Friesenhäuser reetgedeckt. Auch die St. Clemens-Kirche trägt einen Kopfputz aus Schilfrohr. Auf dem alten Seemannsfriedhof erzählen die „sprechenden Grabsteine“ die Lebensgeschichten von Seefahrern und Walfängern. Zur Einkehr laden - übrigens nicht nur in Nebel - in allen fünf Inseldörfern ‘hyggelige‘ Cafés und überraschend gute Restaurants ein!
"Augen auf beim Wattenlauf"
Wer nach Amrum reist, sucht vor allem das Naturerlebnis. Und diesem begegnet man unter anderem im Watt, das heute zum UNESCO Weltnaturerbe zählt. An der nördlichsten Spitze bin ich mit Rainhard Boyens verabredet, der Urlauber während der Saison bis zur Nachbarinsel Föhr führt. Sobald der ‚Blanke Hans’ - die tobende Nordsee - in den Frühsommermonaten zahm wird, geht es für den gebürtigen Amrumer raus. Er liebt seine Heimat, und er liebt die Natur, zwischen Strand und Wellen ist er in seinem Element. Das Schönste auf Föhr sei der Blick nach Amrum, sagt er augenzwinkernd und setzt sein ansteckendes Lächeln auf. Gästen auf seine sympathische Art die Besonderheit des Insellebens und des Watts nahe zu bringen, sei seine Passion, fügt er hinzu.
Die Wattlandschaft offenbart sich zwei Mal täglich mit dem Gezeitenwechsel und erlaubt es Wanderern, den Meeresboden unter den nackten Füßen zu spüren. Mit der Parole „Augen auf beim Wattenlauf“ macht Boyens aufmerksam auf das, was ich als ‚Landei’ zweifelsohne übersehen würde. Das Laufen auf dem Watt ist nicht ohne! Von Prielen und Rinnen durchzogen präsentiert es sich noch als gangbarer Untergrund, während man beim nächsten Schritt schon bis zum Knöchel im kühlen Schlick versinkt. Gibt man nicht Acht, könnte die Bekanntschaft mit den scharfkantigen Schalen einer Auster äußerst schmerzhaft werden.
Von Pricken und cleveren Würmern
Mehr als 10.000 Tier- und Pflanzenarten leben im Wattenmeer. Muscheln, Schnecken und zahlreiche Fischarten, Seehunde, Kegelrobben und Schweinswale haben sich an den steten Wechsel von Ebbe und Flut und an den hohen Salzgehalt der Nordsee angepasst. Auch der Wattwurm ist ein Bewohner dieses Ökosystems. Die grauen, Spaghetti-ähnlichen Häufchen, die scharenweise den Boden bedecken, weisen auf seine rege Verdauungstätigkeit hin. Beherzt stößt Boyens seine Forke in den Boden, um ein Exemplar aufzustöbern. Der Wurm lebt in U-förmigen Röhren bis zu 20 cm unter der Oberfläche. 30 cm kann er lang werden. Bekommt ein Fressfeind ihn zu packen, wirft er einfach einen Teil seines Körpers ab und entschwindet. Ganz schön clever!
Amrums Watt erzählt viele Geschichten. Reinhard Boyens kennt sie alle, einige gibt er preis, während wir in Richtung des großen Priels wandern, der auch bei Ebbe noch Wasser führt. Still ist es, nur das Geschrei der Möwen begleitet uns. Das Auge darf entspannt in die Weite schweifen, vor uns taucht Föhr auf. „Hier könnt ihr sehen, wie hoch das Wasser bei Flut steht“, ruft Boyens und deutet mit ausgestrecktem Arm auf eine im Boden verankerte Stange. Mit ihrem nach oben gerichteten Reisig erinnert sie an einen aufgerichteten Hexenbesen. „Pricken dienen als Fahrwasserkennzeichen in schmalen Fahrrinnen und flachem Wasser“, lernen wir, „und damit zur Orientierung für den Schiffsverkehr.“ Auf die Frage, wie der gelernte Zimmermann, der gemeinsam mit seinen Brüdern in vierter Generation eine Strandkorbvermietung betreibt, zum Wattführer wurde, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Weil ich es wichtig finde, dass Natur zwar geschützt wird, gleichzeitig aber erlebbar bleibt. Nur so kann man die Bedeutung dieser Landschaft vermitteln", sagt der Amrumer. Und dies gelingt ihm ohne Zweifel.
Wir treten den Rückweg an, bevor die Flut einsetzt - diesmal die sagenhafte Dünenlandschaft im Blickfeld. Meine Empfehlung: Besuchen Sie Oomram, wie Amrum im Inseldialekt genannt wird, und schließen Sie sich einer der sachkundigen Touren des Wattführers Rainhard Boyens an, es lohnt sich! Termine und Kontaktdaten finden Sie unter www.wattwandern-amrum.de.
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