Das Jahrmarkttheater in Bostelwiebeck tritt seit nunmehr 18 Jahren erfolgreich den Beweis an, dass auch im ländlichen Raum anspruchsvolle Bühnenkunst für ein ebensolches Publikum entstehen kann.
Erschienen in: "Meine Energie", Magazin der Energieversorgung Dahlenburg-Bleckede, Ausgabe 26/2023, Fotos: Bert Brüggemann.

Mit einem Klischee möchte Anja Imig, Bühnen- und Kostümbildnerin und Gründungsmitglied des Jahrmarkttheaters, unbedingt aufräumen: dass der Provinz das Verständnis für Kunst und Kultur fehlt. „Der ländliche Raum ist genauso Kulturraum, das Publikum genauso offen, neugierig und kultiviert wie das städtische“, sagt sie. Aussagekräftiges Indiz sind die Besucherzahlen bei einem Spielplan, der ein Kaleidoskop aus Kabarett, Kinderstücken, Klassikern und anspruchsvollen Eigenproduktionen ist. Theater, das nicht nur gefällig daherkommt, sondern klare Kante zeigt, Reibungsfläche bietet und zum Perspektivwechsel einlädt. Theater, das auch mal Einheimische zu Akteuren werden lässt, Produktionen über Landesgrenzen hinweg ermöglicht und die Theaterlandschaft um einen wichtigen (ländlichen) Standort reicher macht. Nur einige von vielen Gründen, die dem Jahrmarkttheater 2021 den Theaterpreis des Bundes bescherten.
300 Klapphocker, ein unbebautes Areal in der Hamburger Hafen-City und zwei ideenreiche Theaterleute waren 2005 an der Geburt des „Jahrmarkttheaters“ beteiligt.
Doch zurück zum Anfang. 300 Klapphocker, ein unbebautes Areal in der Hamburger Hafen-City und zwei Theaterleute mit unzähligen Ideen, wie sich ein Stück unter Einbindung mehrerer Orte inszenieren ließe, waren 2005 an der Geburt des „Jahrmarkttheaters“ beteiligt. Thomas Matschoß ist neben Anja Imig der Mann der ersten Stunde. 2008 zogen sie raus aus der Stadt nach Wettenbostel und mit ihnen die 300 Klapphocker und das Konzept des Wandertheaters. Statt des urbanen Hafenflairs wurden Teich und Wiesen, Blätterrauschen, Grillengezirp und die herabsinkende Dämmerung zu Requisiten in Imigs Bühnenbildern. Die Geschichten dazu fand (und findet) Thomas Matschoß im aktuellen Weltgeschehen oder auf der Dorfstraße. „Die Stücke entstehen meist gemeinsam“, betont der Autor und Regisseur, der schon für das Hamburger Schauspielhaus oder das Schmidt’s Stücke schrieb. Neben ihm und Anja Imig zählen fünf weitere Mitstreiter*innen zum Kernteam. Matschoß gießt die Ideen in Textform, führt Regie und schlüpft häufig selbst in Rollen - die Zuständigkeiten aller Beteiligten sind grundsätzlich fließend.
Die Geschichten dazu findet Thomas Matschoß im aktuellen Weltgeschehen oder auf der Dorfstraße.
2020 dann der Ortswechsel von Wettenbostel nach Bostelwiebeck, „weil alle Geschichten erzählt waren, die an diesem Ort erzählt werden wollten“, klärt Imig auf, die unter anderem am Schauspielhaus Hamburg Bühnenbilder und Kostüme entwarf. Vom alten Standort aus trifft man nach 40 Autominuten in östlicher Richtung auf den Hof, wo sie und ihr Kollege ihr neues Zuhause samt einer Spielstätte fanden. Aber statt der erhofften Inspirationen klopfte in jenem Jahr erst einmal die Pandemie ans Scheunentor.

„In den Coronajahren kreisten unsere Gedanken oft um das Thema ‚verschwinden‘. Was wäre, wenn uns die Kultur abhanden kommt? Was, wenn auch Frieden oder die Demokratie nicht mehr existierten?“ Dieses „Was-wäre-wenn“ lieferte schließlich die Vorlage zum Sommerstück 2023.

In „Die Spur des Verschwindens“ tritt das Publikum aus dem Jahr 2367 eine Zeitreise an und landet - Überraschung! - im heutigen Bostelwiebeck. Was es feststellt: 2023 existiert noch so Manches, was in der Zukunft längst Geschichte ist. Ein Stück, das übrigens charakteristisch dafür ist, wie Theater in Bostelwiebeck gedacht und gemacht wird. Aus einem stetig wachsenden Netzwerk internationaler Künstler*innen bilden sich immer wieder neue Formationen, Synergien, Inhalte und Formate heraus. 22 Schauspieler*innen, Autor*innen, Techniker*innen, Musiker und Musikerinnen aus Australien, der Ukraine, Hamburg, Berlin, Stuttgart, Südtirol und Bostelwiebeck finden im diesjährigen Open-Air-Stück eine gemeinsame Sprache.
Und weil die Bostelwiebecker ihr Haus gerne für Kulturschaffende jeder Sparte öffnen, ist das Jahrmarkttheater seit 2022 auch Teil des bundesweiten Residenzprogramms „Netzwerk Flausen+“.
Und weil die Bostelwiebecker ihr Haus gerne für Kulturschaffende jeder Sparte öffnen, ist das Jahrmarkttheater seit 2022 auch Teil des bundesweiten Residenzprogramms „Netzwerk Flausen+“, das Künstler*innen neben einem Stipendium auch einen Ort für den Rückzug und das Kreativsein bietet. Theater in der Provinz ist eben alles andere als provinziell, sondern quicklebendig!
www.jahrmarkttheater.de
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